Gute Schulden, schlechte Schulden? Die EU will ihre Fiskalregeln überarbeiten
Autorin: Johanna Krebs
Fast jede und jeder kennt diese beiden Zahlen: 3 und 60 Prozent. Das sind die europäischen Obergrenzen für die jährliche Neuverschuldung (3 Prozent) bzw. den gesamten Schuldenstand (60 Prozent), gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt. Eigentlich – denn in der Realität wurden diese Werte häufig nicht eingehalten.
Seit 2020 ist das Regelwerk sogar de facto ganz außer Kraft gesetzt, damit die Mitgliedstaaten kreditfinanzierte Rettungsprogramme erst in der Corona- und nun in der Energiekrise finanzieren konnten. Ab 2024 soll es wieder gelten, dann aber in überarbeiteter Form – denn nicht nur die Durchsetzung hat sich als schwacher Punkt erwiesen, sondern auch Teile des Regelwerks selbst. Aber der Reihe nach.
Was ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt?
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt ist das Herzstück der europäischen Fiskalregeln. Er soll zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum sowie der Stabilität des Euros beitragen. Um das zu erreichen, verpflichtet der Pakt die Mitgliedstaaten insbesondere dazu, ihre Neuverschuldung auf drei Prozent und die gesamte Staatsverschuldung auf maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu beschränken. Das betrifft indirekt auch die Länderhaushalte wie den Bremens, da es um die gesamtstaatliche Verschuldung geht, nicht nur die des Bundes.
Verstoßen Mitgliedstaaten gegen diese Regeln, sind Sanktionen vorgesehen, die allerdings bislang nie eingesetzt wurden. Zudem sind die Mitgliedstaaten unter dem Pakt verpflichtet, jährlich mindestens fünf Prozent der Differenz zwischen ihrem Schuldenstand und den vorgeschriebenen 60 Prozent abzutragen.
Die Regeln des Pakts stehen schon länger in der Kritik, da Kriterien zu kompliziert und schwierig zu durchschauen sind und zudem die Austeritätsregeln von Teilen der Wissenschaft als volkswirtschaftlich kontraproduktiv angesehen werden, weil sie teils zu wirtschaftlichen Problemen und im Ergebnis damit sogar zu einer höheren Verschuldung führen können. Auch die Sanktionsregelungen sind umstritten, nicht zuletzt, weil sie zwar existieren, in der Praxis aber bislang nicht angewendet werden. Kurzum – der Pakt funktionierte nicht so, wie er es sollte.
Heute liegt die durchschnittliche Verschuldung der Eurozone bei 95 % des BIP, auch Deutschland überschreitet mit 68 % die Schuldengrenze.
Neue Fiskalregeln?
Am 9. November 2022 hat die Europäische Kommission nun einen ersten Vorschlag für eine Reform vorgelegt. Die Mitteilung sieht keine Änderung an den genannten Grenzwerten vor, da eine solche Änderung eine Überarbeitung der EU-Verträge voraussetzen würde. Stattdessen plant die Kommission eine Änderung der Regeln für Mitgliedstaaten, die einen Schuldenstand von über 60 Prozent aufweisen: Sie sollen zusammen mit der Kommission individuelle Pläne über vier bis sieben Jahre erarbeiten, wie sie ihre Schuldenstände reduzieren können. Als Gegenleistung für die erhöhte Flexibilität sollen Sanktionen konsequent ausgeführt werden, wenn auch in abgeschwächter Form verglichen mit den Strafmaßnahmen des momentanen Pakts. Außerdem schlägt die Kommission vor, in besonders schweren Fällen diesen Staaten Mittel aus dem EU-Haushalt vorzuenthalten.
Reaktionen und Kritik
Die Mitteilung ist noch kein Gesetzesvorschlag, sondern der Start einer Diskussion. Es fällt auf, dass bestimmte Punkte, die zuvor debattiert wurden, nicht in dem Dokument enthalten waren, zum Beispiel der Vorschlag, eine sogenannte „Goldene Regel“ einzuführen, wonach Schulden, die für „grüne“ oder digitale Investitionen aufgenommen werden, nicht unter die gleichen Regeln fallen würden. Der Vorschlag geht daher einigen nicht weit genug, die sich noch mehr Flexibilität und Gelder für öffentliche Investitionen gewünscht hätten. Anderen geht der Vorschlag schon zu weit, da sie fürchten, dass Flexibilität zu weniger Stabilität und Schuldenabbau führen wird.